Sehe ich ganz anders. Aufgeweckt haben mich Psychologen und Psychotherapeuten vor vielen Jahren, als ich als „Fitness-Papst“ tituliert wurde. Und mir – sehr oft auch schriftlich – massive Vorwürfe anhören musste aus dieser Berufsgruppe. Ich würde Menschen süchtig machen.

Menschen kämen durch mich zum Laufen, würden dann täglich laufen (unglaublich!!!!!) und würden mit der Zeit vom Laufen abhängig. Laufen würde sich zur Sucht entwickeln. Und das sei schließlich etwas ganz, ganz Schreckliches.

Das hatten die während ihrer Ausbildung gelernt: Sucht ist etwas Schreckliches.

Ich dachte mir immer: Ja und? Tiere laufen, unsere Vorfahren sind gelaufen, und wir hocken herum? Wer hat hier Recht? Ist diese ach so gefährliche Laufsucht nicht vielleicht der Normalzustand? Sollten die sich nicht vielleicht lieber über die „Sitzsucht“ qualifizierte Gedanken machen?

Damals begann meine innere Ablehnung dieser Berufsgruppe. Nach meiner Auffassung sind die gefangen in und geprägt von einem künstlichen Menschenbild. Aufgrund ihrer Ausbildung. Nun ja… Sitz ich also kürzlich am Schreibtisch und fange plötzlich das Nachdenken an (doch doch, klappt manchmal noch…), ob ich auch eine Sucht hätte. Ob ich auch irgendetwas unbedingt täglich brauche. Was mich wirklich glücklich machen würde in diesem Moment.

Hier am Schreibtisch sitzen? Nein, sicher nicht. Und plötzlich ging mir auf, dass ich tatsächlich süchtig bin. An einer Sucht leide. Dass ein ständiger Drang mich bewegt:

  • Ich brauche, ich liebe, ich bin angewiesen, auf den süßen Dauerschmerz beim Kraft-Ausdauertraining.

Beispielsweise angestrengtem Radfahren im großen Gang bei Gegenwind. Habe ich heute soeben hinter mir. Zweieinhalb Stunden. Pures Leid. O nein: Pures Glück.

Früher habe ich wie jeder vernünftige Mensch natürlich gelitten an den Schmerzen beim Bergauf -rennen. Immer noch schneller. Den Gegner überholen. Heute… suche ich das bitter-süße Gefühl. Will ohne es nicht mehr leben.

Gedanke: Hat jeder von uns eine Sucht? Ist jeder von uns auf irgendetwas süchtig? Wahrscheinlich doch. Oder andersherum: In meinen Augen traurig jeder Mensch, der solch eine Sucht nicht hat. Mit „solch“ meine ich „vertretbar“, möglicherweise „gesund“.

Ich meine ausdrücklich nicht wirkliche Drogenabhängigkeit von Heroin oder Kokain. Deren körperliche Folgen sind zu schrecklich.

Ahhh ja. Wieder etwas gelernt. Es gibt auch andere Süchte. Eher gesunde Süchte. Sehen Sie: Das war das fehlende Steinchen, der fehlerhafte Gedanke in der Kritik der Psychologen damals. Als sie von der Laufsucht sprachen. Die Tatsache nämlich, dass es sehr wohl auch gesunde Süchte geben könnte. Kommt wohl in deren Lehr-Gebäude eher nicht vor.