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Marathon und Medizin
Unvergessen die Buh-Rufe aus dem Saale, als ich vor 600 Ärzten forderte: „Die Approbation als Arzt darf bekommen nur, wer einen Marathonlauf absolviert hat.“ Die Idee dahinter natürlich simpel und schlicht: Erfahrung schlägt Bücherwissen. Nur wer seinen Körper auch in Grenzsituationen einmal gespürt hat, kann verantwortlich einem leidenden Menschen (lateinisch patiens) Ratschläge geben. Ohne Körpergefühl, eigenes, erlebtes Körperbewusstsein ist Arztsein nicht möglich.
Auch in diesem Punkt erfahre ich späte Anerkennung. Über das "auch" könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Habe ich mir soeben notiert. Aber zurück:
Da wurde in Berlin soeben neu gegründet ein Zentrum für computerunterstützte Psychiatrie- und Altersforschung. Chef der Direktor am Max Planck-Institut für Bildungsforschung, Prof. Ulmann Lindenberger (53). Der Bemerkenswertes erforschen will. Wörtlich:
Lindenberger: Ja, uns interessieren die Verläufe, speziell im Alter. Das Gehirn wird mit den Jahren kleiner und verliert Botenstoffe. Der eine gilt mit 80 Jahren als dement, der andere ist noch bei scharfem Verstand. Ich will diese Unterschiede nicht nur beschreiben, sondern verstehen, welche Faktoren das Gehirn fit halten.
Spiegel: Haben Sie denn schon eine Vermutung?
Lindenberger: Ausdauertraining versorgt das Gehirn zusätzlich mit Blut und regt die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus an. Auch deswegen nehme ich jedes Jahr an einem Marathon teil...
Ei gucke da: Ein Marathonläufer. Prof. Lindenberger. Tiefe Verneigung. Kompliment. Ein Wissenschaftler, der offenbar nicht nur Bücher nacherzählt, sondern praktisch forscht: Er läuft selbst. Und hat längst Ihre, verehrte Leser, Ihre Erfahrung gemacht: Ausdauertraining weckt unser Gehirn auf (Sprachen lernen...) und vergrößert das Gedächtniszentrum.
Prof. Lindenberger, Marathonläufer, will noch mehr. Er möchte Stress verstehen. Könnten wir ihm natürlich helfen. Uns ist das, was er da erst erforschen will, längst bekannt:
Lindenberger: Zum Beispiel Stress. Wir möchten verstehen, warum er manche Menschen depressiv macht, andere aber nicht...
Na, na, na, was gibt es da zu erforschen? Da gibt es die Ameisen. Menschen, die sich abstrampeln. Täglich überfordert sind. Nicht mehr ein noch aus wissen. Am Arbeitsplatz, in der Ehe… Und wenn die jetzt noch einen zusätzlichen Stressor bekommen (das Finanzamt) dann… werden sie depressiv. Ganz einfach.
Und dann gibt’s die Adler. Souverän. Abgehoben. Mit Überblick. Stecken die täglichen Kränkungen mit links weg. Sind halt Marathonläufer. Wenn die jetzt den gleichen zusätzlichen Stressor erleiden, dann… schlucken die kurz, stecken es weg. Depressiv jedenfalls werden die nicht.
Könnte man selbstverständlich beweisen: Vor einem Jahr, im Tal der Schmerzen (Schmerzstufe 8, kurz vor der Ohnmacht), morphiumabhängig, hat sich mein wunderschöner Tryptophan-Spiegel verabschiedet. Gegen Null. Tryptophan wird durch Stress verbraucht.
Nur wird, wie Sie wissen, aus Tryptophan Serotonin. Unser Glückshormon. Und ohne das – das ist ja schon die Definition – wird man eben depressiv. So ich. Nichts Besonderes.
Die Ausführungen waren soeben als lieb gemeinte Anregungen an den Max-Planck-Direktor gedacht. Zu dem Thema (Stress, Depression) gäb’s natürlich aus der Sicht des Molekularmediziners unendlich vieles zu berichten. Berichten heißt: Wir haben es bereits gemessen, haben’s zum Teil verstanden, können Menschen helfen. Wie Sie aus diesen News ja alle wissen.
Wäre wieder ein Buch. Ich fürchte zunehmend, dass ich Ihnen mit meiner Schreiberei lästig falle...
Quelle: Spiegel 18/2014, S. 112