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Ästhetisch
Das Leben habe ich von Anfang an als ästhetisches Problem betrachtet. Meine Sicht der Dinge. Wir sollten versuchen, unsere Mitmenschen nicht durch einen hässlichen Anblick zu erschrecken. Durch laute Geräusche (Kofferradio, Autoradio). Durch Ausspucken. Durch ungewaschene Kleidung. Durch Tragen der Schambehaarung im Gesicht, wenn Sie mich verstehen. Aber wie gesagt: Das war und ist meine private Einstellung.
Ich betone das für den folgenden Text. Will versuchen, auch anderen Meinungen gerecht zu werden. Fair zu bleiben. Obwohl es mir im innersten Herzen graust vor Ansichten, wie sie E. Raether, eine Redakteurin des Zeitmagazins (23.01.2014), so von sich gibt.
Frau Raether verherrlicht die Witwe Clicquot-Ponsardin. Die aus der Champagnerdynastie. Eine Frau, so Frau Raether, die aufs Äußere ausdrücklich keinen Wert legt. Keine hübschen Kleider anziehen wollte, sondern selbstverständlich alkoholisiert, "dick und zufrieden unter einer Art Schlafhaube hervorblickt". Dieses Bild ziert jeden Metalldeckel einer Flasche, die das Haus Clicquot verlässt.
Frau Raether lobt die fette Dame. Sie würde eben verzichten auf das, was so lähmend auf den weiblichen Geist wirke: Das Nett-sein und Nett-aussehen-wollen. Kein Kommentar meinerseits.
Uns Frauen heute, so Frau Raether, hätte die Gefallsucht fest im Griff. Heißt für mich übersetzt: Wir würden uns ab und zu mal waschen, die Zähne putzen, die Haare kämmen und saubere, gebügelte Kleidung anziehen. Etwas ganz Negatives. Gefallsucht.
Frau Raether hatte eine Zeit lang gehofft, die Beteiligung der Frauen am Berufsleben würde dazu führen, dass die Frage der Attraktivität nicht mehr lebensentscheidend für sie wäre. Heißt für mich: frau braucht sich also ausdrücklich nicht mehr um sich, um ihr Aussehen, ihren Körper kümmern, darf mit Cellulitis und vielleicht struppigen Haaren durch Leben tapern… Und es wird noch schlimmer. Jetzt formuliert Frau Raether direkte Vorwürfe an Sie, meine Damen: Dicker Vorwurf:
- Gestandene Frauen rechnen sich Tag für Tag aus, wie viel Gramm Kohlenhydrate sie zu sich nehmen dürfen, ohne zuzunehmen.
- Vierjährige Mädchen verzichten auf Eis, weil es dick macht.
Verzicht auf Eis, Verzicht auf Zucker, Verzicht auf Krebs, auf Diabetes, auf Herzinfarkt, all das ist ein Zeichen von Schwäche. Von Gefallsucht. Übersetzt: Von fehlender Intellektualität. Tun also nur Doofe.
Und dem ernsthaftesten Zivilisationsgift auszuweichen, Kohlenhydrate einzusparen bewertet Frau Raether dito.
Ich versuche mit großer Anstrengung, einen echten Kommentar zu vermeiden. In meiner Welt ist der Mensch für den anderen da. Nimmt Rücksicht. Auch auf dessen Auge, auch auf dessen Nase (Gestank), auch auf dessen Gehör. Das bemerkenswerte an diesem Artikel ist das kleine Passfoto der Verfasserin. Bildhübsch. Gepflegt. Wohlfrisiert. Schlank. Von welchem hohen Ross aus wird hier geurteilt?